Nach § 17 Abs. 2 Satz 1 InsO ist der Schuldner zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Gemäß BGH Urteil vom 24.05.2005 ist „regelmäßig von einer Zahlungsunfähigkeit auszugehen, wenn die innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke des Schuldners 10 % oder mehr beträgt, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig geschlossen wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.“ Bisher sah der BGH zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit eine „Liquiditätsbilanz“ vor, in der innerhalb von drei Wochen flüssig zu machende Finanzmittel (Aktiva II) den innerhalb von drei Wochen fällig werdenden, eingeforderten Verbindlichkeiten (Passiva II) gegenübergestellt werden.
Der BGH hat mit Urteil vom 28.06.2022 die Methode zur Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit erweitert und stützt damit die Vorgehensweise des IDW S 11. Die aktuelle höchstrichterliche Rechtsprechung stellt nun klar, dass Zahlungsunfähigkeit nicht nur durch Aufstellung einer Liquiditätsbilanz, sondern auch durch einen stichtagsbezogenen Liquiditätsstatus in Verbindung mit einem Finanzplan für den Dreiwochenzeitraum dargelegt werden kann. Eine entscheidende Rolle bei der Aufstellung des Finanzplans spielt die Fortentwicklung fälliger Verbindlichkeiten und verfügbarer Liquidität auf Basis des vorgesehenen Zahlungsverhaltens sowie die darauf aufbauende Erstellung von Plan-Liquiditätsstatus für den Dreiwochenzeitraum. Alternativ kann der Nachweis einer Liquiditätslücke (10 %-Grenze als Schwellenwert) auch durch eine Aneinanderreihung mehrerer stichtagsbezogener Liquiditätsstatus im Dreiwochenzeitraum erfolgen.
Der BGH lässt damit verschiedene rechnerische Modelle zu, mit deren Hilfe die Zahlungsunfähigkeit ermittelt werden kann. Diese Rechtsprechung wird mit dem am 27.09.2022 veröffentlichten Entwurf einer Neufassung des IDW Standards „Beurteilung des Vorliegens von Insolvenzeröffnungsgründen“ (IDW ES 11 n.F.) aufgegriffen und untermauert. Der IDW S 11 hat schon bisher die Ermittlung der Zahlungsunfähigkeit über einen Finanzplan präferiert. Die Methodik der Liquiditätsbilanz und des Finanzplans kommen bzgl. der absoluten Höhe der Liquiditätslücke zwar zu demselben Ergebnis. Allerdings werden bei der Liquiditätsbilanz die vorhandenen liquiden Mittel und erwartete Zahlungseingänge kumuliert und ins Verhältnis zur Summe der fälligen und fällig werdenden Verbindlichkeiten gesetzt. Zahlungen auf fällige und fällig werdende Verbindlichkeiten werden hierbei nicht berücksichtigt. Die Liquiditätsbilanz führt aufgrund des sog. Volumeneffekts relativ betrachtet häufig zu einer geringeren prozentualen Liquiditätslücke. Aus Sicht des Schuldners ist es nicht unproblematisch, dass die Modelle zu unterschiedlichen Ergebnissen bei der Bestimmung der sog. 10 %-Grenze kommen und dadurch mögliche Haftungsgefahren resultieren könnten. Daher sollte der Schuldner die Liquiditätsentwicklung stets kritisch verfolgen und ggf. die Rechenmodelle miteinander vergleichen, um frühzeitig eine Zahlungsunfähigkeit erkennen zu können.
Autorin: Marie Tierhold, München
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